mit den Ortsgruppen Baltmannsweiler, Plochingen und Reichenbach-Hochdorf
Zusammengestellt und wiedergegeben von Organisator und Stadtführer Jürgen Gruß, 12. August 2019
Wenn die Inspirationen für einen gemeinsamen Ausflug dreier Ortsgruppen im Schwäbischen Albverein wieder einen großen Erfolg zu verzeichnen hat, dann war es dieser verbindende Kulturausflug am Sonntag, den 11. August nach Michelstadt. Das Städtchen hat 16.000 Einwohner und ist eine Kleinstadt im Odenwald. im Süden von Hessen. Michelstadt ist mit einer Fläche von gerade mal 87 Quadratkilometern wie sein Name schon verrät der größte Ort im Odenwaldkreis. Der Name kommt von dem heute nicht mehr gebräuchlichen Adjektiv michel = groß (im Gegensatz zu lützel = klein). Michelstadt war also (früher) mal eine große Stadt. Heute ist es zumindest noch eine sehr schöne Stadt.
Die Stadt zählt zu den ältesten Siedlungen des inneren Odenwaldes. Das erste Steinhaus wurde 741 dem Bonifatiusschüler Burkhart, dem ersten Bischof von Würzburg, geschenkt. In diesem Zusammenhang wurde Michelstadt erstmals erwähnt. Nach seinem Tod fiel diese „Burg“ zurück an die fränkische Königskrone. Im Jahre 815 wurde die Markung „Michlinstat“ erneut verschenkt, diesmal an Einhard.
Einhard (770 geboren) war ein fränkischer Adliger und Geschichtsschreiber, der ab 794 ein wichtiger Berater und der Biograf Kaiser Karls des Großen war. Seine am klassischen Vorbild geschulte Sprache, ein sehr bewusstes Nacheifern römischer Verwaltungsbeamter sowie Verbundenheit und intime Kenntnis seines Kaisers befähigten ihn, ein monumentales Herrscherbild von einer individuellen Treffsicherheit zu entwerfen, wie sie sonst im Mittelalter kaum zu finden ist. Sein Geburtstag jährt sich 2020 somit zum 1.250. Mal.
840 kam der Besitz an das Kloster Lorsch. Mit der Neuzeit wurde das Wachstum der Stadt immer mehr durch die Stadtmauer eingeengt, weshalb ab dem 17. Jahrhundert die ersten Häuser außerhalb entstanden. Im Jahr 1806 fiel Michelstadt mit der Grafschaft Erbach an das Großherzogtum Hessen.
Eingebettet in eine sehr waldreiche Mittelgebirgslandschaft liegt es 200 m über NN. Der höchste Berg in der Region ist der Hohwald im benachbarten Hesseneck mit 553 m Höhe. In Michelstadt herrscht Landidylle. 61 Prozent der Fläche in der Stadt werden forstwirtschaftlich genutzt, 28 Prozent werden landwirtschaftlich genutzt.
„Was Du mir sagst, vergesse ich. Was Du mir zeigst, daran erinnere ich mich.“, bestärkt uns- Konfuzius Und was Wanderfreund Jürgen Gruß alles zeigte, wird uns 36 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Gedächtnis bleiben.
An drei Stellen liebäugelten wir mit Parkanlagen, in denen zauberhafte teils über 100 Jahr und an die 60 Meter hohe Bäume stehen. Michelstadt hat eine Altstadt mit vielen denkmalgeschützten Fachwerkhäusern. Einer besonderen Betrachtung unterzogen wir dem von kleinen verwinkelten Bauernhäusern, als auch Brunnen in Hanglage geprägten Viertel vor der Stadtmauer. In 13 Brauereien wurde um 1900 übrigens in Michelstadt Bier gebraut. Diese Tradition wird heute in zwei Braustätten fortgeführt. Weinbau betrieben zwei Familien.
Das historische Gasthaus „zum Grünen Baum“ bot das passende Ambiente zu unseren Verköstigungsabsichten und zur Babbelstond bevor wir wieder den Gassen und Sehenswürdigkeiten unsere Aufwartung machten.
Zum Start des zweiten Teils schauten wir zur Synagoge: eine der wenigen Synagogen, die in Südhessen nach der nationalsozialistischen Judenverfolgung erhalten geblieben sind. Während des Novemberpogroms vom 9. November 1938 wurde der Innenraum völlig verwüstet, aber das Bauwerk selbst blieb unversehrt, ebenso die hebräische Inschrift. Inzwischen gibt es wieder eine jüdische Gemeinde. Im Jahr 2005 wurde feierlich eine Thorarolle in die Synagoge gebracht. Seitdem finden in der Synagoge wieder Gottesdienste statt.
Das Michelstädter Fachwerk-Rathaus, u.a. abgebildet auf einer Briefmarke der Deutschen Bundespost („500 Jahre Rathaus Michelstadt 1984“), wurde im Jahre 1484 im Stil der Spätgotik errichtet, danach mehrfach im Inneren verändert und war von 1743 bis 1903 verschindelt. Viele können sich kaum vorstellen, dass das Gebäude acht Jahre vor der Entdeckung Amerikas erbaut wurde. Das Erdgeschoss des Rathauses diente von Beginn an als Markthalle. So hatte man auch bei Regen immer ein Dach über dem Kopf. Der originellste Fachwerkbau Deutschlands wurde in Rähmbauweise errichtet, der rückwärtige Teil (Ostwand) war ursprünglich ein Teil der Friedhofsmauer, auf der das obere Rähm des Erdgeschosses aufliegt. Die Eichenbalken des Fachwerks sind noch original erhalten. Der Baumeister ist unbekannt, vermutet wird, dass die Anregung für den Bau von Schenk Adolar von Erbach und Bischof Johann III. von Dalberg (dessen Berater) ausgegangen sein könnte.
Die 1490 fertiggestellte Stadtkirche wurde als Ersatz für eine in karolingischer Zeit von Einhard an Stelle einer Holzkirche erbauten Steinkirche errichtet. Die Pfeiler des Mittelschiffs sowie die Wände des südlichen und nördlichen Seitenschiffs wurden 1475 gebaut. Der Chor stammt aus dem Jahr 1461, die Nordwand des Vorchors ist noch karolingisch. Die Vorgängerin der Stadtkirche wurde neben dem hier erneut hervorspringenden Bach namens „Kiliansfloß“ erbaut. Der gefasste Kiliansfloß speiste neben dem Taufbecken auch eine Vielzahl der städtischen Brunnen. Die Michelstädter Stadtkirche hat eine Vielfalt an Grabplatten vom Hochmittelalter bis zur Neugotik. Die intensivfarbigen Glasfenster stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert; sie gehen auf Stiftungen ortsansässiger Familien und Vereine zurück.
Abschließende Station unseres insgesamt gut dreistündigen Rundgangs war die anfangs erwähnte Burg, eine im Wesentlichen im 16. Jahrhundert überbaute fränkische frühmittelalterliche Anlage, die in den Stadtmauer-Ring integriert ist. Der als Diebsturm bezeichnete westliche Turm diente als Gefängnis und war der tiefst gelegene Stadtmauerturm. Und Reineke Fuchs bewacht den Ausgang.
Die Menschen des Mittelalters begingen ihr Tagwerk in festem Glauben an höhere Mächte:
Gott war allgegenwärtig, aber auch sehr grausam, der Teufel war ein reales Wesen,
Engel und Dämonen kämpfen um die Seelen der Menschen. Ebenso gewichtig wie der „rechte“ Glaube war der Aberglaube. Geister und Spukgestalten waren fester Bestandteil des Lebens, ebenso wie die Zauberei, die in vielen Familien praktiziert wurde. Ein Mitglied der Gesellschaft war der Scharfrichter, der für die „Hohe Gerichtsbarkeit“ hier im Rahmen der Burg tätig war. Hexen und Hexenverfolgung gab es nahezu überall – außer in der ehemaligen Grafschaft Erbach! Hier blieb die Seelenwelt des Mittelalters erhalten.
Die Bahn tat ihr Übriges, dass alle Verkehrssysteme aufeinander gepasst hatten und wir im Prinzip keine Standzeiten hatten. Dies bei achtmaligem Umsteigen. Der Bahnhof Michelstadt, ein Durchgangsbahnhof an der Odenwaldbahn, liegt etwa 700 Meter von der Altstadt entfernt.
Kulturfahrt Michelstadt (Foto: Horst Branke)